Holacracy? Soziokratie? Agile? – Selbstorganisation! Deshalb möchte ich euch heute 5 Artikel zum Thema Selbstorganisation vorstellen, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und je unterschiedliche Aspekte diskutieren.
Der erste ist ein sehr persönlicher Bericht, wie man sich fühlen kann, wenn man von einer hierarchischen in eine Netzwerkorganisation wechselt. Danach beide Teile eines Interviews mit dem Selbstorganisations-Guru, der so gar kein Guru ist: Frederic Laloux. Er erzählt unter anderem, was ihn dazu gebracht hat, sein bekanntes Buch „Reinventing Organisations“ zu schreiben. Der vierte Artikel geht in die Tiefe und versucht einen zentralen Begriff der Selbstorganisation – Purpose – zu definieren. Spannend auch, wie hier mögliche negative Aspekte thematisiert werden. Und zum Schluss ein Erfahrungsbericht einer neu gegründeten Firma, die Holacracy light als Organisationsmodell gewählt hat.
Ich wünsche euch viel Spass und Erkenntnisgewinn beim Lesen meiner Übersicht, aber vor allem auch der Originalartikel!
  
Anhand einer Erfahrung mit einer Kunstinstallation zeigt Esther Roemer sehr schön auf, dass Selbstorganisation nicht nur eitel Sonnenschein bedeutet. Zuerst ist da mal Angst und Unsicherheit und es braucht viel Mut, das Alte los zu lassen und sich auf die neue Situation einzulassen. Der Schritt in die Selbstorganisation braucht viel Zeit. Schliesslich sollen die Mitarbeitenden nicht einfach wieder in ein vorgefertigtes Modell gezwängt werden, sondern neuen Sinn in ihrer agilen Arbeit finden.
Wie auf einem grossen Trampolin müssen wir uns auch zuerst daran gewöhnen, dass jeder der sich bewegt, auch alle andern bewegt und aus dem vermeintlich sicheren Stand bringt. Jede noch so kleine Veränderung verursacht weitere Veränderungen.
Es braucht in einem Netz Zellen relativer Stabilität mit Nähe und intensiver Zusammenarbeit. immer aber auch genügend Leute, die auf den Fäden unterwegs sind und für Austausch sorgen.
Plötzlich wieder Verantwortung zu übernehmen, überfordert anfänglich viele. Wenn man sich immer erst bewegt hat, wenn der Puppenspieler an den Fäden gezogen hat, muss man zuerst wieder laufen lernen. Das heisst zu allererst auch, für sich selber verantwortlich zu sein und für sich einzustehen.
In einem Netz sind alle mit Fäden verbunden. Führungsverantwortung und Selbstführung sind untrennbar verbunden und bedingen sich gegenseitig. Wie das Netz aber genau aussieht, ist immer wieder individuell. „One size fits all“ gibt es nicht mehr wie im Hierarchiemodell.
  
Erster Teil eines schönen und sehr persönlichen Interviews mit Frederic Laloux, dem Autor von „Reinventing Organisations“. Ein Buch, das gerade in den USA auf wenig Resonanz gestossen ist, obwohl dort jeden Monat wieder eines der ewig gleichen Managementbücher hochgelobt wird.
  
Laloux war lange für McKinsey und nachher als selbständiger Coach für Top Manager tätig. Bis er spürte, dass er so nicht mehr weitermachen konnte. Gut bezahlte Jobs, grossartige Büropaläste, aber alles kalt und seelenlos und alle Leute hetzen immer schneller von einem Meeting zum nächsten Quartalsziel. 
Da kam ihm die Idee zu untersuchen, ob es Organisationen gibt, die anders geführt werden und gerade deshalb erfolgreich sind. Zwölf davon beschreibt er in seinem Buch. Laloux denkt, dass auch bisher hierarchisch geführte Grossunternehmen Selbstorganisation einführen könnten. Bedingung ist aber, dass der CEO voll und ganz dahinter steht und mit gutem Beispiel vorangeht. Eine solche Transformation ist nicht einfach ein Projekt, sondern „man muss zusammen in eine neue Kultur hineinwachsen.“
Laloux führt das schöne Beispiel von Decathlon an, wo der Chef verstanden hat, dass nicht mehr alles zentral geplant und die Details von oben herab vorgegeben werden können. Aufgabe des CEOs sei es, einen Impuls zu geben, Einladungen auszusprechen und dann die Umsetzung zu unterstützen. 
„Alle Menschen sind im Grunde ein Wunder, niemand weiss, was für Dinge sie aus sich heraus ermöglichen können, bis man ihnen den Freiraum dafür schafft.“ Schon fast kitschig, aber wieso versuchen wir’s nicht einfach mal?
  
Und hier gleich der 2. und letzte Teil des Interviews.
Frederic Laloux empfiehlt den Chefs, ihren Mitarbeitenden mehr Freiräume zu geben, aber im Moment geht es eher in die andere Richtung. Viele Grossunternehmen betreiben ein Business, das der Welt schadet und eigentlich verschwinden müsste. Deshalb haben Mitarbeitende dort Mühe, den Sinn ihrer Arbeit zu sehen und werden sicher nicht durch den Daseinszweck (Purpose) der Firma motiviert.
Auch in Selbstorganisation wird Führung nicht verschwinden. Aber Führung ist nicht einfach gleich Macht und schon gar nicht mehr von der hierarchischen Position abhängig. Alle sollen ihr Potential bestmöglich entfalten können und dort Führungsaufgaben übernehmen, wo sie besonders gut sind, andere inspirieren und etwas bewegen können. Machtverhältnisse hingegen verhindern per se die Entfaltung vieler Potentiale.
Laloux ist der festen Überzeugung, dass Mitarbeitende nicht überfordert sind mit Selbstorganisation. Im Gegenteil, die allermeisten blühen auf. Schwierigkeiten hat eher das mittlere Management, dessen Daseinsberechtigung nun plötzlich in Frage gestellt ist.
Ich empfehle, beide Artikel zum Interview unbedingt selber zu lesen!
  
Hier ein interessanter Artikel, auch wenn er nicht ganz einfach zu lesen ist. Ich nehme das heraus, was mir im Zusammenhang mit meinem Post wichtig scheint.
Purpose lässt sich am besten mit Sinn und Zweck übersetzen. Es geht “(…) um die Bestimmung der übergeordneten Werte, zu deren Verwirklichung die Unternehmung mit ihren Zielsetzungen und Aktivitäten beitragen soll.” (Ulrich & Probst 1988). Der Purpose legitimiert einerseits das Verhalten einer Organisation und fokussiert auch das ihrer Mitarbeitenden. Der Purpose hat vier wichtige Funktionen: 
  • Handlungsleitung: Purpose macht die übergeordnete Absicht greifbar.
  • Orientierung: Ein starker Purpose hilft den Menschen mit Change und Unsicherheit umzugehen. 
  • Koordination: Der Purpose hält selbstorganisierte, cross-funktionale Teams zusammen und stellt sicher, dass alle am selben Strick ziehen. 
  • Anziehungskraft: Ein starker Purpose kann das Unternehmen auch als Arbeitgeber differenzieren.
Der Sinn (das „Warum“) ist die weitgefasste Vision, während der Zweck (das „Wozu“) eher der Mission entspricht. Der Purpose gibt aber niemandem (s)einen Sinn. Der Purpose eines Unternehmens ist ein Angebot an Menschen, ihren Sinn daran zu koppeln. Ein Purpose inspiriert mich, er gefällt mir, er spricht meine eigenen Werte an – oder eben nicht.
Eine neue Erkenntnis aus diesem Artikel ist für mich zu unterscheiden, ob der Purpose in einem Unternehmen ein offenes „Angebot zur Sinnkopplung“ ist und „Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln“ bietet oder quasi zu einem Dogma, einer Ideologie wird, deren genaueste Befolgung von den Mitarbeitenden eingefordert wird. Letzteres führt schnell zu Überidentifikation mit dem Unternehmen und sektiererischem Verhalten.
  
Die Autoren erzählen, wie sie ihre Form der Holokratie, eine Holacracy Light, leben. 
Operative und taktische Entscheidungen werden in wöchentlichen Meetings gemeinsam getroffen. Dabei können alle in ihren Kreisen Ideen und Anregungen zur Verbesserung einbringen.

Ein solches demokratisches Modell bedeutet jedoch nicht, dass sich alle immer einbringen müssen / sollen. Die Bedürfnisse, Vorlieben und Charaktere der einzelnen Mitarbeitenden sind unterschiedlich. Letztlich sollte ausschlaggebend sein, ob eine Entscheidung Auswirkung auf die eigene Arbeit hat. Für die Entscheidungsfindung hilft es sehr, wenn Vorschläge schon im Vorfeld allen unterbreitet und dafür bereits Mehrheiten organisiert werden.

 

Bei dringenden Entscheiden braucht es zudem manchmal eine „Fast Lane“, um handlungsfähig zu sein.

Strategische Entscheide, die die gesamte Organisation betreffen (wie bspw. die Einführung einer „Fast Lane“), werden in monatlichen Governance-Besprechungen getroffen. 
Nach aussen tritt die Firma unterschiedlich auf. Obwohl es keine Chefs gibt, ist es für viele Kunden beruhigend zu wissen, dass sie erfahrene Mitarbeitende als Ansprechpartner erhalten. Diese werden dann dem Kunden gegenüber durchaus mit konventionellen Titeln wie Lead, Director oder Chef bezeichnet.

 

Hier einige der Learnings, die sie mit ihrem Holacracy Light gemacht haben:

  • Nicht jede/jeder muss alles mitgestalten (wollen)
  • Self-Empowerment kann nicht diktiert werden
  • Bottom-up trägt nachhaltig zum Verständnis von Entscheidungen bei und stellt Transparenz sicher
  • Holokratie-Organisationen müssen sich auch an traditionelle Organisationsmodelle anpassen, zum Beispiel in Kundensituationen
  • Wir können damit leben, wenn wir nicht immer sofort zu einem mehrheitsfähigen Ergebnis kommen

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